Wissen trennt – Praxis (Erfahrung) vereint, Teil 1

Ich kann mich gut erinnern: zu Beginn der 90-er Jahre habe ich eine Ausbildung in Psychosomatischer Medizin gemacht. Mein Lehrer damals liess uns eine interessante Übung machen. Und zwar sollten wir eine kurze Präsentation vorbereiten, die ein Plädoyer für etwas sein sollte. Also eine Rede mit Argumenten z.B. für das Nicht-Rauchen, für eine Vegetarische Ernährung, für eine gewisse Partei, für irgendetwas, was uns am Herzen lag. Wir hatten uns also alle ein Thema ausgesucht.

Als wir nun alle unser Thema hatten, sagte er, wir sollen jetzt eine Rede für die Gegenseite vorbereiten. Also alle, die das Thema Nicht-Rauchen hatten, sollten eine flammende Rede Pro-Rauchen, alle die sich für eine vegetarische Ernährung entschieden hatten, sollten eine passionierte Rede für das Fleisch-essen vorbereiten.
Wir waren total geschockt! Wir haben rebelliert. Wir waren empört. Wir fanden das ethisch fragwürdig.
Er meinte darauf ganz ruhig: „Du wirst ganz leicht viele Menschen finden, die genau deiner Meinung sind. Und du wirst genau so viele Menschen finden, die gute Argumente haben, anderer Meinung zu sein. Um das Ganze zu erkennen, ist es wichtig, verschiedene Blickwinkel und Standpunkte einzunehmen. Sie wirklich zu fühlen.“

Er gab uns einen Tag lang Zeit dafür. Wir haben erstmal viel Zeit damit verbracht zu schimpfen. Dann haben wir – eher widerwillig – angefangen zu recherchieren (das war damals noch gar nicht so einfach, wie das heute ist!), uns auszutauschen. Nichtraucher/innen haben sich mit überzeugten Rauchern/innen zusammen gesetzt und liessen sich auf Diskussionen ein, die sie so nie geführt hätten. Wir tauschten uns über Studien aus, Zahlen, Fakten, Erfahrungen und hörten uns ihre Argumente genau an. Und das, ohne gleich in eine Verteidigungsstrategie der eigenen Meinung zu verfallen. Wir haben zugehört. Wir waren offen für die andere Sicht – mussten wir sie ja nachher öffentlich vertreten!

Am späteren Nachmittag haben wir uns versammelt und in Kleingruppen die Kurz-Vorträge gehalten. Wir sind dabei so kreativ geworden und haben uns ganz reingegeben in eine für uns ganz fremde Argumentation. Das war skuril, absurd und auch total lustig. Wir waren am Ende des Tages total aufgedreht und wach.

Diese Übung hat jetzt aus einer Nichtraucherin keine Raucherin gemacht. Doch was diese Übung geschafft hat ist, dass sie die harten Fronten aufgeweicht hat und die gespaltenen Lager zusammen gebracht hat. Es war Waffenstillstand. Eine Ruhe. Freundlichkeit. Da war plötzlich ein gewisses Verständnis für eine – für einen selbst – total befremdliche Position oder Haltung. Eine Akzeptanz. Dieser Perspektivenwechsel entstand nicht nur im Kopf, in dem ich mir ein paar Sekunden oder Minuten Gedanken über etwas gemacht habe und dabei meine gedankliche Komfortzone nicht verlassen habe. Nein. Dieser Perspektivenwechsel war durch die Übung verkörpert. Durch die Praxis war da eine Erfahrung.

Das, was ich da verstanden habe, hat mein ganzes Leben verändert und geprägt. Das ist mir gerade gestern bewusst geworden. Ich habe mich erinnert: Okay, es gibt Menschen, die machen ihr Leben lang eine ganz andere Erfahrung als ich, wurden anders geprägt, leben in anderen Umständen und erleben Traumata, die ich in ihrem Umfang und in ihrer Tiefe gar nicht erfassen kann. Daraus entwickeln sie eine vollkommen andere Sicht und Meinung.

Diese Erfahrung hat bei mir dazu geführt, dass sich in mir ein Interesse, eine Neugier entwickelt hat, Dingen auf den Grund zu gehen. Ich mag es, wenn ich mir eine Vielfalt an Meinungen, Standpunkten und Sichtweisen einholen kann, wenn ich verschiedenen Quellen nachgehen kann und verschiedene Argumentationen höre. Kann sie als potentielle Möglichkeiten im Raum, im Feld sehen. Das fordert mich aus meiner Komfortzone heraus und inspiriert mich. So kann ich mir aus dieser Fülle ein grösseres, umfassenderes Bild machen. Das Leben ist bunt, vielseitig und vielfältig. Ich mag es erforschen können und meine Erfahrungen teilen. In Dialog gehen. Das lässt mich wachsen. Immer klarer sehen. Tiefer fühlen.

Und ich bin gerade so dankbar, dass ich das derzeit noch kann und auch darf. Dass das derzeit noch möglich ist…

Vielleicht magst du diese Übung machen?
Übung 1:
Überleg dir ein paar Themen, die dir gerade am Herzen liegen. Mein Tipp: Nimm etwas ganz einfaches, etwas unverfängliches zu Beginn. Und dann finde Argumente für das Gegenteil, die Gegenposition. Vielleicht ist es sogar etwas, das du mit deinen Kindern machen kannst oder den Menschen, mit denen du jetzt mehr zusammen bist. Nimm es leicht. Mach es spielerisch. Sei erfinderisch. Es weitet den Geist.

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