Yoga und Emotionen

Es gibt im klassischen Yoga die Idee, dass Emotionen hinderlich sind auf dem spirituellen Weg, wenn es darum geht, Einheit zu erfahren. Deshalb wird viel Disziplin darauf gelegt, Emotionen zu kontrollieren. Im Buddhismus haben Emotionen insofern Platz, als dass man einübt, jegliche Emotion in Mitgefühl zu wandeln. Das führte im Yoga zu dieser weit verbreiteten „Licht & Liebe“-Haltung. Positive vibes only. Wenn schon Emotionen, dann bitte nur die hochschwingenden…

Was ist denn mit all den anderen Emotionen, dem ganzen Spektrum, welches das Leben nunmal zu bieten hat?

Dass es ungünstig ist, Emotionen zu unterdrücken, sollte heute wohl den meisten klar sein. Wie also umgehen damit im Yoga? Ich finde, der Kashmirische Shivaismus hat da eine heilsame, erfrischende und pragmatische Herangehensweise. Sie ist nicht nur höchst modern, sondern auch praktikabel. Dabei gehen die Tantrika davon aus, dass eine Emotion ein paar Sekunden dauert. Wenn wir uns Stunden, Tage, Wochen oder Monate in einer Emotion verheddern, dann liegt es daran, dass wir daraus eine Story machen. Eine Geschichte, ein Drama, das wir immer wiederkäuen. Damit füttern wir die Emotion. Es wird zu einer Kopfsache. Ein Mindf**k.

Die Idee, dass eine Emotion etwa 90 Sekunden dauert, stammt von der Neurowissenschalfterin auf dem Fachgebiet Neuroanatomie Dr. Jill Bolte Taylor. Sie argumentiert, dass die physiologische Reaktion des Körpers auf eine Emotion—die chemischen Prozesse, die durch das Gehirn ausgelöst werden—etwa 90 Sekunden dauert. Nach diesen 90 Sekunden hat der Körper die chemische Reaktion verarbeitet und die Emotion verblasst. Wenn eine Emotion länger andauert, liegt das laut Taylor daran, dass der Verstand weiterhin Gedanken erzeugt, die die Emotion erneut auslösen und verstärken.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Emotionen nach 90 Sekunden verschwinden. Und genau da setzt die tatrische Praxis, wie sie im Vijñana Bhairava Tantra beschrieben wird, an. Die anfängliche physische Reaktion auf eine Emotion dauert etwa 90 Sekunden. Dass aber die Erfahrung und das Bewusstsein der Emotion viel länger andauern können liegt daran, dass wir „Geschichten“ dazu kreieren. Wir schenken der Emotion Aufmerksamkeit mit den Gedanken, die wir uns dazu machen. In unserer Praxis dreht sich vieles darum, die Emotion von der Geschichte zu lösen und die Emotion im Körper zu fühlen.

Taylor, Jill Bolte (2008): My Stroke of Insight: A Brain Scientist’s Personal Journey. Viking Penguin.

Harvard Business Review (2013): Artikel über Emotionen und die „90-Sekunden-Regel“ basierend auf Dr. Jill Bolte Taylors Forschung.