Das Begehren als Weg im Tantra
Wenn ich von Tantra spreche, dann meine ich den klassischen Tantra, der eine uralte spirituelle Tradition ist, die sich grundlegend vom Neo-Tantra unterscheidet.
Unterschied zwischen Tantra und Neo-Tantra
Traditionelles Tantra ist ein Weg, der auf das Eins-Sein mit der Schöpfungskraft (z.B. Shiva-Shakti) ausgerichtet ist. Es sieht das Begehren bzw. das Verlangen als eine heilige Kraft, die uns helfen kann, uns mit dem Raum (der Quelle) zu verbinden. Neo-Tantra hingegen, das stark von modernen Denkern wie Osho geprägt wurde, betrachtet Begehren oft als Mittel zur Selbsterfüllung und zum körperlichen Genuss.
Im klassischen Tantra wird Begehren als Werkzeug genutzt, um tiefer zu gehen und Transzendenz zu erreichen. Im Neo-Tantra hingegen bleibt das Begehren oft an der Oberfläche und wird als Selbstzweck gesehen. Diese beiden Ansätze sind daher grundlegend unterschiedlich.
Warum wird Begehren oft als problematisch angesehen?
In vielen spirituellen Traditionen, wie im Christentum, Buddhismus oder Hinduismus, gilt Begehren als Hindernis. Es bindet uns an die materielle Welt, stärkt das Ego und führt zu Leid durch Anhaftung.
Ein Beispiel ist der Wunsch nach einem neuen Kleidungsstück:
- Sobald wir es im Schaufenster sehen, fühlen wir das Verlangen, es zu besitzen.
- Dieses Begehren lässt uns unruhig werden und lenkt uns ab.
- Haben wir es schließlich, kann Enttäuschung folgen bzw. schon wieder das nächste Begehren.
Solche Wünsche und Begierden werden oft als Quelle von Unzufriedenheit und Trennung vom Göttlichen angesehen.
Die tantrische Ausnahme: Begehren als spiritueller Weg
Im klassischen Tantra, insbesondere im nicht-dualistischen Kashmirischen Shivaismus, wird Begehren jedoch nicht als Hindernis betrachtet, sondern als Möglichkeit sich in diese Erfahrung hinein zu weiten und zu verschmelzen mit dem Raum (Gott).
Der entscheidende Punkt ist: Es geht nicht um das Objekt des Begehrens (z. B. das Kleidungsstück), sondern um die Energie, die im Begehren selbst steckt.
- Der Wunsch, das Kleidungsstück zu besitzen, ist eigentlich ein Ausdruck der universellen schöpferischen Kraft.
- Diese Energie des Begehrens ist nicht getrennt von uns – sie ist ein Teil unseres Bewusstseins und ein Ausdruck des Göttlichen.
Indem wir nicht beim Objekt bleiben, sondern die Energie hinter dem Begehren spüren, erkennen wir, dass uns diese Energie zurück zu uns selbst führen kann.
Zusammenfassung: Begehren als schöpferische Kraft des Selbst
Im Tantra wird Begehren nicht als Feind gesehen und unterdrückt, sondern als heilige Energie, die uns mit unserer innersten Wahrheit verbinden kann. Allerdings geht es dabei nicht um das Objekt des Verlangens, sondern vielmehr um die körperliche Erfahrung, die das Verlangen auslöst. D.h. wir schälen die «Geschichte» von der Erfahrung und lauschen dem Aufsteigen des Verlangens als erste, schöpferische Bewegung. Im Neo Tantra bleibt der Fokus auf dem Verlangen bzw. Objekt selbst. Bei der spirituellen Praxis liegt der Schlüssel darin, das Begehren nicht auf das Objekt zu richten, sondern die Energie des Begehrens bewusst zu erleben.
Wenn wir die Kraft hinter dem Verlangen erkennen, ohne uns an das Objekt zu klammern, öffnet sich eine Tür zu tieferem Bewusstsein. So wird Begehren im Tantra zu einem Weg, der uns nicht von uns selbst entfernt, sondern uns mit der universellen Einheit verbindet.
Und hier ein Vers aus einem meiner Lieblingstexte, dem Vijñana Bhairava Tantra:
Vers 98: Wenn Verlangen und/oder Gedanken aufkommen, sollte man den Geist auf die Energie dieses Verlangens (oder Gedankens) richten und das Bewusstsein darin verweilen lassen, diese Energie als [eine wesentliche Śakti des] Selbst zu betrachten. Dann wird man Einsicht in die wahre Natur der Realität erlangen. (WALLIS)
Wenn Verlangen oder Wissen sich manifestiert haben, vergiss deren Objekt und richte deinen Geist auf das objektlose Verlangen oder Wissen als das Selbst. Dann wirst du die tiefe Realität erreichen. (ODIER)