Ich schreibe aus aktuellem Anlass. Eigentlich hatte ich andere Pläne für den heutigen Tag. Eigentlich.
Viele sind gerade erschüttert und irritiert darüber, was sich seit einem Jahr rund um Covid-19 in der Yogaszene abspielt. Über das Verhalten, die Meinungen und Standpunkte der Yogalehrenden. Es stehen unterschiedliche Ansichten im Raum darüber, wie sich ein „richtiger“ Yogalehrer bzw. eine Yogalehrerin, die verstanden hat, „worum es im Yoga geht“, zu verhalten hat.
Nun, mich schockiert das nicht. Einfach deshalb, weil ich Yogalehrende oder Gurus noch nie auf ein Podest gestellt habe. Weil ich keine Erwartungen habe. Weil ich nicht den Anspruch an sie habe, dass sie in allen Bereichen des Lebens den „Durchblick“ haben sollten, die „EINE“ Wahrheit kennen und über alle Irrtümer erhaben sein sollten. Sie haben für mich nie eine Vorbildfunktion gehabt. Sind wir ehrlich: es gibt kaum eine Yoga-Tradition oder spirituelle Gemeinschaft, in der es nicht irgendeinen Skandal um die Gurus gab.
Ich bin nicht enttäuscht. Ich habe schon ganz früh erfahren, dass „nicht alles Gold ist, was glänzt“. Dass es in der spirituellen Szene oder in der Yogawelt genau die gleichen Fallen oder Störfelder gibt, wie im Leben auch. Dass es die gleichen Ego-Spielchen gibt, wie auf Managementebene in einem Grosskonzern (dort erwarten wir es vielleicht eher und es ist weniger von einem spirituellen Mäntelchen verdeckt).
Wieso sollten Yogalehrende „bessere“ Menschen sein? Wir sind alle in erster Linie einfach Menschen. Wir machen während eines Lebens verschiedene Erfahrungen, die uns prägen. Vieles ist uns bewusst und noch mehr wahrscheinlich nicht. Vieles haben wir erkannt. Vieles nicht. Dementsprechend werden wir mehr oder weniger getriggert.
Und jetzt kommt Corona. BÄM. Ein Yoga-Workshop für Fortgeschrittene. Deckt auf und bringt ans Licht, was ist und verstärkt es vielleicht noch.
Die Quellentexte des Yoga heranzuziehen und zu zitieren, um den eigenen Standpunkt – in dieser, ich nenne es mal, politischen Situation – zu untermauern, sehe ich kritisch. Ich lege gleich dar, wieso. Ich lege dar, wie ich die Texte verstehe und nehme das Yogasutra als Beispiel. Das wurde in einigen FB Posts der letzten Tage verwendet, um zu beurteilen, wer Yoga verstanden hat und wer nicht.
Das besondere an den Weisheitstexten ist die formelhafte Kürze der Verse. Zudem haben die einzelnen Sanskritbegriffe eine Fülle an Übersetzungsmöglichkeiten. Je nach dem, für welche Übersetzung ich mich entscheide, bekommt der Vers eine etwas andere Färbung. Deshalb sind die verschiedenen Übersetzungen so interessant: sie sind immer geprägt vom Menschen, der die Übersetzung gemacht hat. Damit eröffnen sie uns verschiedene Nuancen des Verses. Solche, die uns näher sind und solche, deren Sinn sich uns (noch) nicht erschliesst.
Alle, die diese Verse lesen, können sie entsprechend ihrer eigenen Entwicklung und Erfahrung, ihrem „So-Sein“, verstehen. Und mit jedem mal, wenn sie die Verse lesen, erfassen sie eine andere Nuance. So sinkt die Weisheit immer tiefer und umfassender in sie hinein. Das ist mit ein Grund, wieso ich gewisse Texte immer und immer wieder lese – seit mehreren Jahrzehnten. Ich entdecke immer etwas neues.
Die Verse der Weisheitstexte dienen uns immer als Spiegel. Im Lesen spiegeln sie uns etwas zurück, das sich in uns befindet. Dadurch, dass sie Spiegel sind, ermöglichen sie ein Wiedererkennen, ein Erinnern. Diese offene, freie Interpretation, die den Versen inne wohnt, macht sie auch nach Jahrtausenden so stimmig und für einen Menschen im 21. Jahrhundert alltagstauglich.
Jetzt hinzugehen, sich auf das Yogasutra zu beziehen und zu sagen, dass, wenn man „ahimsa“ richtig verstanden hat, es auf die heutige Situation bedeutet, sich aus Solidarität impfen zu lassen (so die Tage gelesen in einem FB-Post), ist m.E. – ich sage es diplomatisch – gewagt. Es ist EINE Möglichkeit der Deutung. Jetzt hinzugehen und zu sagen, Patanjali hat das schon gesagt oder das steht so im Yogasutra, ist falsch. Eine andere Möglichkeit wäre, „ahimsa“ so zu deuten, dass keine Impfpflicht eingeführt werden darf, weil das Gewalt an denen bedeutet, die das nicht möchten. So ähnlich stand das dann in einigen Kommentaren auf den Post. Auch eine Möglichkeit der Interpretation.
Etwas ähnliches habe ich zu einem der Kleshas, zu„avidya“ gelesen. Avidya kann als Unwissenheit oder nicht-Erkennen der Wahrheit übersetzt werden. In dem FB Post wurde es gedeutet als „zu VT neigend“. In einem anderen waren es die, die noch schlafen, die in avidya sind. Wie auch immer wir es drehen, wir können es passend machen, so dass wir auf der „richtigen“ Seite oder über den anderen stehen. Wenn wir das wollen.
Wir können wirklich jeden Vers dahingehend deuten, dass er unsere politische Meinung bestärkt. Das liegt in der Natur der Quellentexte. Die Frage ist: wollen wir das? Wollen wir die Weisheitstexte dazu nutzen, um darüber zu urteilen, wer ein besserer Yogi, eine richtige Yogini ist? Wollen wir Yoga so leben?
In einem FB-Post las ich, dass all die, die jetzt Yoga via Zoom anbieten, keine richtigen Yogis/Yoginis sind. Dass das kein richtiger Yoga sei. Nur so Kommerzzeugs. Dass Yoga nur in der direkten Begegnung, ohne irgendwelche äusseren Beschränkungen möglich sein. Ganz furchtlos. Tja. Auch eine Sicht.
Woanders wurde Mahatma Gandhi als Vorbild für Yogalehrerinnen und -lehrer zitiert, doch bitte die Füsse still zu halten und ruhig zu sein. Nun, er hat aber auch gegen die Regierung, gegen die soziale Ungerechtigkeit protestiert.
Ich fühle in all dem diesen starken Wunsch, dass wir die Weisheitstexte nicht weiter dazu nutzen, um sie uns gegenseitig um die Ohren zu hauen. Um andere herabzusetzen und auszugrenzen.
Wenn wir erkennen, dass die Weisheitstexte uns nur UNSERE innere Landschaft spiegeln und das, was wir momentan fähig sind, zu erkennen und dass da keine objektive Wahrheit drin steht, dann haben wir schon viel von Yoga verstanden. Dann könnten wir uns entspannen und die anderen einfach sein lassen mit ihrer Meinung. Verschiedene Meinungen gab es schon immer. Und wird es auch immer geben. In der Welt und in der Yoga-Bubble.
Ich kann jemandem zuhören, der eine komplett andere Haltung hat, als ich. Mit dem Wissen über seinen Hintergrund, kann ich da total mitfühlen. Kann das verstehen. Der gleichen Meinung bin ich trotzdem nicht. Deshalb kann ich Menschen verstehen, die mit ihrer eigenen Geschichte in der Impfung die Rettung sehen. Und ich kann Menschen verstehen, die die Impfung kritisch sehen. Ich kann Menschen verstehen, die sich noch strengere Massnahmen wünschen. Und solche die fordern, die Massnahmen zu lockern.
Ich kann verstehen, dass Menschen auf die Barrikaden gehen, denen es seit fast einem Jahr untersagt wird, ihrer Arbeit nachzugehen. Die auch noch herabgewürdigt werden mit dem Label „nicht systemrelevant“. Vor allem, wenn es da Politiker gibt, die immer noch ihr Honorar erhalten (oder deren Diät sogar erhöht wird) und dabei gebetsmühlenartig wiederholen, dass „wir alle den Gürtel enger schnallen und die Zähne zusammenbeissen müssen“. Das stimmt halt so einfach nicht. Es trifft eben nicht alle.
Wir könnten erkennen, dass wir uns „vom Kopf her“ vielleicht nie annähern und einig sein können. Dass es, je nach persönlicher Geschichte, einen anderen Standpunkt gibt, der richtig erscheint.
Auf der Ebene des Herzens können wir in Verbindung gehen. Da können wir einig sein. Wenn wir wirklich fühlen.